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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Taiga


oliver
25.05.2006, 08:57
Hi,

Hab gerade ien Buch fertig gelesen, das ich sehr empfehlen kann: "Die Vergessenen der Taiga" von Wassili Peskow. Hier der Text auf dem Einband:

Als russische Geologen Ende der siebziger Jahre über die menschenleere sibirische Taiga fliegen, um Messungen vorzunehmen, glauben sie ihren Augen nicht zu trauen: Sie entdecken einen Kartoffelacker und daneben eine kleine Hütte - rund 250 Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt!
Der Journalist Wassili Peskow erfährt von der Begebenheit; er wird neugierig und macht sich auf die Reise in die unzugängliche Wildnis. Dort trifft er auf eine Familie von altgläubigen Einsiedlern: Karp Ossipowitsch Lykow und seine vier Kinder. Weitere besuche folgen, und die Lykows erzählen ihre schier unglaubliche, faszinierende Lebensgeschichte: Seit fast einem halben Jahrhundert hausen sie völlig vergessen und fernab von den Menschen, weil ihr Glaube, der sich an den Ritualen des 17. Jahrhunderts orientiert, es ihnen verbietet, "mit der Welt in Freundschaft zu leben". Ihr Alltag läuft ab wie zu Zeiten Peters des Großen, von Stalinismus und Krieg haben sie nie gehört. Ihr Leben wird bestimmt von Gebeten und dem ständigen Kampf ums Überleben im sibirischen Winter. In ihrer altertümlichen Sprache berichten sie von den Höhepunkten ihres Eremitenlebens: ein Bärenfang, die Geburt der beiden jüngsten Kinder, die nie andere Menschen außerhalb der Familie kennengelernt haben, der Hungerwinter 1961, in dem die Mutter starb, der tragische Moment, als der Kalender nicht mehr stimmte...
Agafja, die jüngste Tochter, hat Wassili Peskow in die Zivilisation begleitet; sie hat Verwandte in der Stadt besucht und ist sogar mit dem Flugzeug geflogen. Doch mit der modernen Welt kommt sie nicht zurecht. Die heute Fünfzigjährige haust als einzige Überlebende immer noch allein in ihrer Hütte. "Ich muß die Kartoffeln setzen, wovon soll ich sonst im Winter leben?" sagt sie beim Abschied.

Gruß,
Oliver

Susanne
25.05.2006, 14:27
Klingt zwar faszinierend, aber auch ein bisschen traurig und hoffnungslos....
Susanne

oliver
25.05.2006, 15:38
Ja, faszinierend ist wohl der passendste Ausdruck. Der Autor beschreibt die Lykows auch wie Bestandteile eines Museums, wenn auch als Freund und mit viel Sympathie. Die Lebens- und Denkweise ist krass: Als die Familie "entdeckt" wurde trug sie selbstgewebte Kleidung aus Hanf, den sie anbauten, trugen Schuhe aus Birkenrinde, hatten nur die abgenutzten Metalltöpfe und -werkzeuge, die sie vor 40 Jahren (aus einer Altgläubigensiedlung, wenn auch nicht so extrem abgelegen) mitgebracht hatten, kein Salz etc.
Auch der Glaube, der überhaupt erst zu dieser Lebensweise geführt hatte, ist extrem. Streichhölzer sind Sünde, Fotografieren auch, Nahrungsmittel in "weltlichen" Gefäßen wie Glas, Plastik ebenso.
Traurig und hoffnungslos sind vielleicht die falschen Ausdrücke. Das Schicksal in der Taiga war selbst gewählt, zumindest von den Eltern, und die Kinder kannten nichts anderes und gingen auch nicht in die sündige Welt, als sie erwachsen waren. Die letzte Überlebende, Agafja, war ja mehrmals in der Zivilisation und hätte dort auch bleiben können, sogar bei Glaubensgenossen, aber die waren ihr wohl nicht extrem genug. Ich würde Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit also durch religiöse Verbohrtheit und eingefahrene Gewohnheiten ersetzen - was Traurigkeit oder Einsamkeit natürlich nicht ausschließen muss.
Das Gute an dieser speziellen Form des Fanatismus ist immerhin, dass er introvertiert ist. Andersdenkende werden nicht in die Luft gejagt, sondern als Gäste in der Taiga gern gesehen, wenn man auch nicht dauerhaft mit ihnen zusammenleben will.
Ein paar Infos mehr gibts noch unter http://www.woz.ch/artikel/inhalt/2005/nr13/Leben/11606.html
Oli

samoa
26.05.2006, 08:15
Ich weiß garnicht, ob ich das so schlimm finden soll, sie lebten halt ursprünglich, auch wenn ein bisschen religiös, fanatisch, aber das gibt es bei uns auch überall. Die Menschen versuchen sich abzuschotten, und den Kindern die wirkliche Welt zu verbergen, das gelingt in der westlichen Welt aber sehr schlecht, weil es auch garnkeinen Platz gibt, solch ein Leben zu praktizieren. In Sibirien haben und hatten sie genug davon. Ich finde diese Idee garnicht sooo schlecht,.aber man sieht ja überall daß dann die Einbürgerung misslingt, und sich die Kinder oder dann schon Erwachsene einfach nicht zurecht finden mit der ganzen Technik und dem ganzen Schnickschnack,...Ich glaub ich hätts schön gefunden vom Weltkrieg nix mitzukriegen, und lieber Kartoffel am Feld zu ernten, denn jedes Leben bringt Härte mit sich, eines so ein anderes so. Jeder hat sein Packerl zu tragen, für uns scheint es vielleicht total unverständlich wie man so leben kann, doch noch vor ein paar hundert Jahren, war es überall auf Erden so,.wir sind einfach zu verwöhnt. das Buch werde ich mir holen, ist genau meine Geschmacksrichtung dankeschön

Susanne
26.05.2006, 12:01
Hallo Ihr!
Mit "traurig und hoffnungslos" meinte ich nicht im entferntesten diese Lebensweise, auch ich hab´s gern einfach, wenn auch nicht gar so sehr, auch ich hab´s gern einsam, vielleicht nicht ganz so schlimm. Traurig und hoffnungslos fand ich nur das Schicksal der Agafja: Gar niemand, der ihren Alltag mit ihr teilt, keine Aussicht darauf, dass ihr Glaube in irgend jemandem weiter leben wird...
Susanne

Shooty
28.05.2006, 09:55
Hallo Oliver!

Herzlichen Dank für den Buchtipp! Genau das Richtige für meine bevorstehende Reise.

Alles Liebe und eine schöne Zeit
Peter

oliver
28.05.2006, 23:43
Meine Wortwahl (religiöse Verbohrtheit, eingefahrene Gewohnheiten) lässt Missbilligung vermuten, aber ich stimme Samoa zu: Das Leben der Lykows lässt sich nicht als schlimm abtun. Jeder hat so seine Ecken und Kanten und lebt dementsprechend, manche eben näher an den gesellschaftlichen Normen und andere weiter weg. Insofern ist es bewundernswert, wie konsequent die Familie in der Taiga ihre Überzeugungen lebt.
Traurig oder schlimm fände ich, wenn jemand sein Leben als leidvoll empfindet, weil ihm seine Ansichten eine andere Lebensweise verbieten. Im Falle der Lykows also: Wenn die Familie nicht abgeschottet in der Taiga lebt, weil sie es gerne möchte, sondern weil sie vor der Welt flüchtet und Angst hat. Die Grenzen sind da leider ziemlich verschwommen. Wisst ihr, was ich meine? "Ich lebe so, weil mir dieses Leben gefällt" vs. "Ich lebe so, weil das andere Leben noch schlechter ist."
Der alte Vater Lykow schien froh zu sein, als ihm der Autor von Problemen in der Welt berichtete, weil ihm das wohl den einen oder anderen Zwefel nahm, ob seine Lebensweise die richtige war. Stellt euch mal vor: Ihr seid über 80 Jahre alt und bekommt plötzlich Zweifel: Hab ich mein Leben falsch gelebt? All die Härten umsonst? DAS nenn ich eine Lebenskrise!

@Shooty: Jetzt sag nicht, dass du in die Taiga fährst!?